11

 

Irgendwann in dieser Nacht oder am frühen Morgen gab es wieder Strom. Wahrscheinlich geschah es nach dem Morgengrauen, weil wir nicht davon wach wurden. Ich lag jedenfalls im Bett und wunderte mich, warum die Zimmerlampe an war. Ich stehe dem Phänomen Strom verständlicherweise mit gemischten Gefühlen gegenüber, aber an diesem Tag freute ich mich über ihn. Ich streckte einen Zeh unter den aufgetürmten Decken hervor, und er erfror nicht sofort. Das war schon mal ein gutes Zeichen. Und meinem Arm ging es auch deutlich besser.

Ich quälte mich aus dem Bett und ging ins Bad. Ich putzte mir die Zähne, wusch mich notdürftig, zog mir etwas Frisches an und schaffte alles allein bis auf die Sache mit dem BH. Ich ließ ihn einfach weg. Das würde nicht groß auffallen, da ich sowohl ein Unterhemd als auch ein Sweatshirt trug. Wer sollte da was sehen?

Zum Beispiel die Polizei. Als ich nämlich gerade überlegte, wie ich saubere Strümpfe anziehen sollte, klopfte es an der Tür. Im selben Moment wurde mir klar, dass ich auch Schritte auf der Treppe gehört hatte. Ich hatte mich nur so sehr aufs Anziehen konzentriert, dass ich nicht darauf geachtet hatte.

Ich war froh, dass ich schon wach war und zur Tür gehen konnte, zumal ich Tolliver als meinen Bruder vorgestellt hatte. Und jetzt war nur ein Bett benutzt worden.

Es hätte aber natürlich auch sein können, dass ich zuerst aufgestanden war und mein Bett bereits gemacht hatte, aber ich hatte keine Lust auf Erklärungen und diese entsetzten Blicke, denen ich oft genug ausgesetzt bin.

Doch wie sich herausstellte, hatte Sandra Rockwell andere Sorgen als unsere Schlafgewohnheiten. Tolliver setzte sich staunend auf, als sie an mir vorbei in die Hütte eilte und sich dort umsah. »Sheriff«, sagte ich, »was ist los?«

Sandra sah unter den Betten und im Bad nach, dann öffnete sie die Falltür und ging in den tiefer gelegenen Lagerraum. Als sie wieder hochkam, wirkte sie entspannter, wenn auch nicht glücklicher.

»Hören Sie, mir gefällt nicht, was Sie da tun«, sagte ich, während Tolliver sich kaum die Mühe machte, ihr den Rücken zuzukehren, während er aus seiner Schlafanzughose schlüpfte und seine Jeans anzog. Sie musterte ihn gründlich genug, um sich die Szene später wieder vor Augen führen zu können, und ich hätte ihr am liebsten eine geknallt.

»Haben Sie Chuck Almand gesehen?«, fragte sie.

Zu sagen, dass ich überrascht war, wäre noch stark untertrieben gewesen.

»Nicht mehr seit gestern. Da haben wir ihn gesehen. Warum sollten wir ihn gesehen haben? Was ist mit ihm?«

»Können Sie mir genau sagen, was passiert ist?«

»Ah, verstehe. Ich wollte mich davon überzeugen, in der Scheune nichts übersehen zu haben. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dort etwas nicht stimmt. Also bin ich noch mal hingefahren. Ich weiß, das war dumm von mir, aber ich dachte, ich käme unbemerkt in die Scheune. Chuck überraschte mich dort. Er wurde wütend auf mich und hat mich geschlagen.«

»Sie geschlagen?« Aber sie klang nicht im Geringsten überrascht. Sie hatte das zweifellos längst von Chucks Vater erfahren.

»Ja, er hat mir einen Magenschwinger versetzt.«

»Ich kann mir vorstellen, dass Sie das ziemlich wütend gemacht hat.«

»Schön war es nicht.«

»Ich wette, Ihr Bruder fand es auch nicht schön.«

»Hier bin ich«, sagte Tolliver. »Nein, ich fand es in der Tat nicht schön. Aber sein Vater kam dazu, und der Junge wirkte so gestört, dass wir gegangen sind.«

»Und Sie haben uns nicht gerufen, um Anzeige zu erstatten?«

»Nein. Wir waren der Ansicht, Sie hätten Wichtigeres zu tun.« Sie wusste, dass wir nicht angerufen hatten. Sie führte uns nur alle unsere Fehler vor Augen. Ich fühlte mich immer elender. Es war meine Schuld gewesen, dass wir noch mal zu der Scheune gefahren waren, allein meine Schuld, und wenn der Junge verschwunden war, war auch das vielleicht meine Schuld.

»Es weiß also niemand, wo er steckt?«, fragte Tolliver. »Seit wann ist er verschwunden?«

»Einer von den anderen Psychologen des Gesundheitszentrums kam etwa eine Stunde nach dem Vorfall zur Scheune. Ein guter Freund von Tom. Er wollte mit Chuck reden, ihm helfen.« Sheriff Rockwell verzog das Gesicht. Sie glaubte offenkundig nicht daran, dass ein Psychologe in Chucks Fall etwas ausrichten konnte. »Tom suchte also nach dem Jungen, damit er mit dem Psychologen redete, aber Chuck war nicht da. Der Psychologe bestand darauf, dass Tom die Polizei rief. Das hat er auch getan, anschließend telefonierte er Chucks Freunde durch. Keiner hatte den Jungen gesehen.« »Sie haben niemanden im ganzen Ort gefunden, der den Jungen gesehen hat?«

»Nein. Aber wir dachten, er hätte vielleicht versucht, Sie zu finden, um eine offene Rechnung zu begleichen. Oder um sich zu entschuldigen. Bei einem so gestörten Kind weiß man nie, was es als Nächstes tut.«

Hilfssheriff Rob Tidmarsh kam herein und stampfte mit den Füßen auf wie vor ihm Sheriff Rockwell. »Ich konnte nichts entdecken, Sheriff«, sagte er.

Sie hatte uns also abgelenkt, während ihr Lakai das Grundstück in Augenschein nahm. Nun, hier gab es nichts zu finden, weshalb ich mich auch nicht darüber aufzuregen brauchte. Sie hatte getan, was sie tun musste.

»Vielleicht sollten wir unseren Anwalt anrufen«, sagte ich.

»Ich habe seine Telefonnummer gespeichert«, sagte Tolliver.

»Oder aber«, sagte Rockwell und übertönte unsere Stimmen, »Sie haben Chuck gefunden und beschlossen, es ihm heimzuzahlen.« Bei diesen Worten sah sie Tolliver an, als würde ich ihn regelmäßig als Schläger losschicken.

»Wir waren die ganze Nacht hier«, sagte Tolliver. »Wir haben einen Anruf bekommen - wann hat uns Manfred angerufen, Harper?«

»Oh, so gegen drei«, sagte ich.

»Was beweist schon ein Handyanruf?«, fragte Rockwell. »Und, hat Manfred mit Ihnen geredet?« Sie sah Tolliver mit einem nicht sehr freundlichen Gesichtsausdruck an.

»Er hat mit mir geredet, aber Tolliver war hier.«

»Er wird also nicht aussagen, dass er mit Tolliver gesprochen hat.«

»Nun, vielleicht hat er ihn im Hintergrund gehört. Aber direkt mit ihm gesprochen hat er nicht, nein.« Vielleicht sollten wir doch lieber unseren Anwalt in Atlanta anrufen. Art Barfield hatte in letzter Zeit viel an uns verdient und bestimmt nichts dagegen, wenn noch etwas dazukäme.

»Ich entführe keine Jungen«, sagte Tolliver. »Aber irgendjemand hier in dieser Stadt schon. Warum sehen Sie mich so an, statt dass Sie herauszufinden versuchen, wer die ganzen Jungen entführt hat? Ist es nicht sehr viel wahrscheinlicher, dass sich derjenige auch Chuck Almand geschnappt hat? Und wenn das so ist, läuft für den Jungen dann nicht langsam die Zeit ab?«

Sheriff Rockwells Gesicht wirkte unglaublich angespannt. Wahrscheinlich knirschte sie frustriert mit den Zähnen.

»Glauben Sie etwa, dass wir nicht weiterfahnden?«, schleuderte sie uns förmlich entgegen. »Jetzt, wo er sein altes Versteck nicht mehr hat - wo kann er den Jungen dann hingebracht haben? Wir durchsuchen jeden Schuppen und jede Scheune im ganzen Bezirk, aber wir dürfen die anderen Möglichkeiten auch nicht außer Acht lassen. Sie waren eine davon, und keine ganz unwahrscheinliche.«

Ich sah das anders, aber wir hatten diese Begegnung mit Chuck und seinem Vater gehabt. Es gab noch etwas, das ich der Polizei erzählen konnte.

»Er hat mir gesagt, dass es ihm leidtut«, sagte ich zu Sheriff Rockwell.

»Wie bitte?«

»Der Junge hat gesagt, dass es ihm leidtut, dass er mich geschlagen hat. Er hat mich gebeten, ihn später zu finden.«

»Warum? Warum hat er das Ihrer Meinung nach gesagt? Was soll das alles?« Der große Hilfssheriff sah mich über Rockwells Schulter hinweg an, als hätte ich zu bellen begonnen.

»In besagtem Moment dachte ich ehrlich gesagt, da spräche ein Geisteskranker. Er hatte so einen merkwürdigen Gesichtsausdruck dabei.«

»Und was denken Sie jetzt?«

»Ich denke... ich weiß selbst nicht, was ich denken soll.«

»Das hilft mir auch nicht weiter.«

»Ich bin weder Psychologin noch Profiler und arbeite auch nicht bei der Polizei«, sagte ich. »Ich finde nur tote Menschen.« Ich finde nur tote Menschen. Chuck wusste das. Und er hatte wortwörtlich gesagt: »Finden Sie mich.«

»Dann sollten Sie mit uns kommen und uns beim Suchen helfen«, sagte Sandra Rockwell.

Ich schämte mich, dass ich noch einen Tag vorher gedacht hatte, es wäre vielleicht besser, wenn Chuck Almand ausgeschaltet würde. Aber da hatte er mir noch nicht sein wahres Gesicht gezeigt, das, als er mir sagte, er müsse mich schlagen.

Tolliver wollte etwas entgegnen, ließ es aber lieber bleiben. Ich sah ihn an. Das war nicht der richtige Augenblick dafür, ihnen zu sagen, dass ich für meine Arbeit bezahlt wurde. Es war richtig gewesen, dass er instinktiv verstummt war. Nein, ich kann keine Gedanken lesen, wir kennen uns nur sehr gut.

»Wo soll ich suchen?«, fragte ich, und meine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen.

Das verwirrte sie einen kurzen Moment. »Sie spüren es, wenn die Leiche noch frisch ist oder?«, fragte sie.

»Ja.« »Dann bringen wir Sie überallhin, wo es sinnvoll sein könnte«, sagte sie.

Ich dachte an Manfred, der im Krankenhaus oder auf seinem Motelzimmer saß und darauf wartete, dass wir kamen. Ich dachte an die Straße, die aus dieser Stadt herausführte, uns von all dem hier erlösen würde. Aber wenn es um das Leben eines Jungen ging, was sollte ich da schon sagen? Und das wusste natürlich auch Sheriff Rockwell.

»Sind Sie so weit? Mr Lang holen wir dann nachher ab«, sagte Sheriff Rockwell.

»Nein«, erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen. »Ohne ihn gehe ich nirgend wohin.« Obwohl es besser wäre, wenn wenigstens Tolliver zu Manfred fahren würde. Andererseits ... nein, es war besser, wenn wir zusammen blieben. Was das anbelangte, war ich egoistisch.

Tolliver verschwand in dem kleinen Bad, während sich Sheriff Rockwell nützlich machte und mir beim Schuhebinden half. Tidmarsh versuchte, nicht laut loszuprusten, was ihm allerdings nicht so ganz gelang. Sheriff Rockwell hatte flinke Finger, und im Nu zierten meine Schuhe ordentliche Schleifen. Ich nahm meine Tabletten ein und räumte ein wenig die Hütte auf, während wir auf Tolliver warteten. Ich versuchte das Kaminfeuer mit Asche zu bedecken, damit es sich neu entfachen ließ. Es gab zwar wieder Strom, aber der konnte genauso gut noch mal ausfallen. Das Kaminfeuer war nach wie vor unverzichtbar. Ich hatte das ungute Gefühl, dass wir noch eine Nacht hier verbringen würden.

Eigentlich wäre Manfred besser geeignet, das vorliegende Problem zu lösen. Wenn er zu dem Haus oder der Scheune ginge, wo wir Chuck zum letzten Mal gesehen hatten, könnte er den Jungen vielleicht irgendwie aufspüren. Andererseits wäre es unmenschlich, Manfred ausgerechnet jetzt um so etwas zu bitten. Vielleicht wäre er gar nicht dazu in der Lage. Er hatte mir mehrmals gesagt, dass seine hellseherischen Fähigkeiten schwächer seien als die seiner Großmutter. Meiner Meinung nach täuschte er sich da, aber er war fest davon überzeugt.

Ich rief ihn an, da wir ja ohnehin noch warten mussten.

Manfred klang traurig, aber gefasst. Ich erklärte ihm die Situation, und er sagte, seine Mutter habe sich wieder gemeldet, sie käme jetzt besser voran, da die Straßen allmählich frei würden. »Wir sehen uns später«, sagte ich. »Bleib, wo du bist, Manfred.«

»Ich traue niemandem hier«, sagte er. »Ich traue weder dem Arzt noch den Schwestern, auch den Krankenhausverwalter finde ich nicht ganz koscher. Sogar der Pfarrer verursacht mir Gänsehaut. Werde ich langsam paranoid? Glaubst du, hier stimmt wirklich etwas nicht?«

»Das ist im Moment schwer zu sagen«, meinte ich.

»Ach, stimmt ja, Sheriff Rockwell ist bei dir«, sagte Manfred düster. »Ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass hier etwas gründlich im Argen ist, Harper.«

»In Doraville? Oder im Krankenhaus?«

»Das weiß ich einfach nicht«, sagte er nach längerem Nachdenken. »Ich habe nicht die Gabe, die meine Großmutter hatte.«

»Ich glaube, da täuschst du dich. Du brauchst einfach mehr Erfahrung. Ich glaube schon, dass du sie besitzt.«

»Wenn du wüsstest, was mir das bedeutet«, sagte er. »Hör mal, ich muss jetzt los. Ich habe da so eine Idee.«

Das klang gar nicht gut. Das klang so, als wolle er auf eigene Faust losziehen. Junge Männer, die in Doraville auf eigene Faust losziehen, leben gefährlich. Ich versuchte ihn gleich wieder anzurufen.

Endlich ging er dran. »Wo willst du hin?«, fragte ich. Inzwischen hatte Tolliver das Bad endlich gewaschen und angezogen verlassen. Weil ich so ängstlich klang, blieb er wie angewurzelt stehen, die schmutzigen Kleider noch in der Hand.

»Ich werde nach dem Jungen suchen«, sagte Manfred.

»Nein, nicht ohne dass dich jemand begleitet«, warnte ich ihn. »Sag uns, wo du hinwillst.«

»Du könntest wieder Ärger bekommen.«

»He, wir haben Sheriff Rockwell dabei, schon vergessen? Wo willst du hin?«

»Ich fahre noch mal zu dieser Scheune. Ich muss dort einfach hin.«

»Nein, warte auf uns, verstanden? Manfred?«

»Wir treffen uns dort.«

Aber wir würden viel länger brauchen, um dorthin zu kommen, weil wir vom See aus losfuhren.

Ich erklärte Sheriff Rockwell, was los war, woraufhin sie vollkommen ausflippte. »Wir haben die Scheune bereits durchsucht«, sagte sie. »Und zwar mehrfach. In der Erde liegt nichts, die Ställe sind leer, und einen Dachboden gibt es nicht. Das Ding ist aus Holz und hat so dünne Wände, dass man niemanden darin verstecken kann. Ich bin mir fast hundertprozentig sicher, dass es dort nicht mal weitere tote Tiere gibt. Außerdem haben Sie mir selbst erzählt, dass dort keine Toten liegen.«

»Keine Toten«, sagte ich, und dann: »Keine Toten ... Zumindest nicht,... oh, Mist. Wir müssen sofort dorthin.« Das ungute Gefühl in mir trieb die wildesten Blüten und ließ mich verstummen.

Wir stiegen in das Polizeiauto und waren in fünf Minuten auf der Straße. Es gab nicht viel Verkehr, und die Straßen waren schon wesentlich freier, trotzdem waren es bis Doraville gute 25 Minuten, und dann noch mal zehn Minuten quer durch die Stadt bis zu der Straße, an der die Almands lebten.

 

Anstatt uns der Scheune vom hinteren Grundstücksende aus zu nähern wie gestern, hielten wir in der Auffahrt vor dem alten Holzhaus. Ich stieg so schnell aus, wie ich konnte. Ich spürte meine Muskeln mehr als am Vortag, und ich hatte die Schmerzmittel weggelassen, um so viel wahrzunehmen wie möglich.

Tolliver legte den Arm um meine Taille, um mich zu stützen, und wir stolperten über die Überreste der Auffahrt, die hinter dem Haus zur Scheune führte. Ich erhaschte einen Blick auf Manfreds Auto, das auf dem Weg hinter dem Haus stand.

Und schon spürte ich die Schwingungen, das Summen in meinem Kopf. Eine ausgesprochen frische Leiche. »O nein«, sagte ich. »Nein, nein, nein.« Ich rannte los, und Tolliver musste mich unter der Achsel stützen, damit ich nicht stürzte. Sheriff Rockwell wurde immer aufgeregter, als sie meine Qualen sah. Sie und der Hilfssheriff eilten uns leichtfüßig voraus. Sie zog ihre Waffe, wobei ich nicht einmal weiß, ob sie es merkte.

An der Scheune angekommen, blieben wir stehen.

Tom Almand stand vor den Ställen am Ende des Gebäudes. Er hatte eine Schaufel in der Hand. Knapp drei Meter vor ihm versuchte Manfred angestrengt, auf die Beine zu kommen. Er blutete am Kopf. Manfred hatte ebenfalls eine Waffe, einen Spaten mit kurzem Griff. Er glänzte so neu, dass Manfred ihn wahrscheinlich erst am Morgen gekauft hatte, vermutlich auf dem Weg zur Scheune. Er hatte noch nicht damit zuschlagen können.

»Tom, werfen Sie die Schaufel weg«, sagte Sheriff Rockwell.

»Er soll seine zuerst wegwerfen«, erwiderte Tom Almand. »Er kam her, um mich anzugreifen.«

»Das ist gelogen«, sagte Manfred.

»Sehen Sie ihn sich doch nur mal an, der Kerl ist doch übergeschnappt«, sagte Tom. Ein Grinsen verzerrte sein schmales Gesicht. »Ich wohne hier.«

»Tom, lassen Sie die Schaufel fallen. Auf der Stelle.«

»Hier liegt eine Leiche«, sagte ich. »Hier liegt eine Leiche, und zwar hier und jetzt.« Ich wollte nur, dass sie begriffen, ich wollte dass sie dieses Arschloch Tom Almand aus dem Weg räumten.

Manfred wich noch zwei Schritte vor Tom zurück und legte seinen Spaten auf den Boden.

Woraufhin Tom mit der erhobenen Schaufel auf Manfred zurannte, um zuzuschlagen.

Der Hilfssheriff schoss zuerst, traf aber daneben. Sheriff Rockwell gelang es jedoch, ihn am Arm zu erwischen, er schrie auf und brach zusammen.

Tolliver und ich suchten an der Wand Deckung, während der Hilfssheriff vorauseilte, um den blutenden Psychologen in Schach zu halten. Manfred fiel auf die Knie und presste die Hände an seinen Kopf, nicht zum Zeichen, dass er aufgab, sondern weil sein Kopf verletzt war.

Wir wollten losrennen, um unserem Freund zu helfen, aber Sheriff Rockwell rief scharf: »Bleiben Sie da weg, bleiben Sie vom Tatort weg!«, und wir gehorchten ihr. Über Funk rief sie Krankenwagen herbei, und als sich die Schaufel außerhalb Tom Almands Reichweite befand, legte sie diesem trotz seines blutenden Arms Handschellen an und durchsuchte ihn sorgfältig. Keine Waffen. Sie klärte Tom Almand über seine Rechte auf, aber er reagierte nicht darauf. Sein Gesicht war genauso leer wie neulich in der Kirche. Der kleine Mann war in Gedanken ganz woanders.

»Spüren Sie immer noch eine Leiche?«, fragte sie. Ich brauchte kurz, um zu begreifen, dass sie mit mir redete. Ich stand noch völlig unter Schock, befürchtete, Tom Almand könne erneut angreifen und Manfred ernsthaft verletzt sein. Nur um Tom Almands Armwunde machte ich mir überhaupt keine Sorgen. Von mir aus konnte er verbluten, bevor der Krankenwagen kam.

»Ja«, sagte ich. »Es gibt hier eine sehr frische Leiche. Darf ich Ihnen zeigen, wo?«

»Wie nahe müssen Sie diesem Mann kommen?«

»Ich muss zum ersten Stall.«

»Dann los.«

Ich ging vorsichtig um die blutenden Männer und Polizisten herum, um die Stallöffnung zu erreichen. Ich ging hinein und schob das alte Stroh mit dem Fuß zur Seite. Es fiel jedoch immer wieder zurück. Also fing ich an, Hände voll zur Seite zu schaufeln. »Tolliver«, sagte ich. Er war unverzüglich da und half mir. Die Schaufel oder der Spaten wären jetzt praktisch gewesen, aber darum konnte ich schlecht bitten. »Ist da irgendwo ein Riegel?«, fragte ich.

Tolliver sagte: »Wir bräuchten eigentlich eine Taschenlampe«, und schon landete eine neben uns auf dem Boden. Sheriff Rockwell hatte sie an ihrem Gürtel gehabt. Tolliver machte sie an und richtete sie auf die Dielen zu unseren Füßen.

»Hier ist eine Falltür«, sagte Tolliver, was den Hilfssheriff fluchen ließ. Wahrscheinlich hatte er zu dem Team gehört, das die Scheune durchsucht hatte.

Tom lachte, und ich warf einen Blick auf die angespannten Leute in der Scheune. Der Hilfssheriff hätte ihm am liebsten gegen den Kopf getreten. Seine Körpersprache war eindeutig. Ich hörte schon den Krankenwagen und wollte gern die Falltür öffnen, bevor er da war und es ein noch größeres Durcheinander gab.

Tolliver fand den Riegel schnell. Er war sehr stabil, vermutlich um Schlägen von unten standzuhalten.

Wir brauchten eine Schaufel, um ihn aufzustemmen, und Tolliver ging, ohne zu fragen, durch die Scheune und nahm die von Manfred. Wir steckten den Spaten in den kleinen Spalt und stemmten uns dagegen. Als Tolliver die Falltür ein wenig aufgestemmt hatte, hielt ich den Spaten mit meiner gesunden Hand fest, während Tolliver nach der Kante griff und die Falltür aufklappte. Sie war sehr schwer, und wir fanden auch heraus, warum: Sie war von unten gedämmt, um jedes Geräusch zu ersticken.

Ich sah in eine Art Grube, die höchstens zwei mal zwei Meter maß und etwa zweieinhalb Meter tief war. Man erreichte sie über eine steile Holzleiter. Die Leiche von Chuck Almand lag am Fuß der Leiter. Er starrte zu uns hoch. Als Erstes stach uns ins Auge, was die Kugel seinem Kopf angetan hatte.

Hinter der Leiche war ein nackter Junge an die Wand gekettet. Sein Mund war mit Klebeband verschlossen. Er sah uns wimmernd mit einem Gesichtsausdruck an, den ich nie wieder sehen wollte. Er war über und über mit Chucks Blut bespritzt, wahrscheinlich war auch eigenes mit dabei. Sein Körper wies Schnittwunden auf, das Blut war schwarz verkrustet. Die Schnittwunden waren geschwollen, rot und entzündet. Er hatte keine Decke, keine Jacke, nichts und er war die ganze Nacht mit der Leiche in der Grube gewesen.

Ich rannte aus der Scheune und übergab mich. Einer der Krankenwagenfahrer, der herbeigeeilt war, untersuchte mich, aber ich zeigte nur auf die Scheune.

Wenige Minuten später kam Tolliver heraus. Ich lehnte mich gegen das abblätternde Holz und wünschte mich ganz weit fort.

»Er hat sich umgebracht, damit du ihn findest«, sagte Tolliver. »Damit du herausfindest, was sein Vater tut.«

»Damit es eine Leiche gibt, die ich finden kann«, sagte ich. »O Gott, dabei waren die Chancen dafür äußerst gering. Was, wenn ich nicht wiedergekommen wäre?«

»Was, wenn Manfred nicht beschlossen hätte, sich noch mal in der Scheune umzusehen?«

»Glaubst du, Tom Almand hat gewusst, wo sein Sohn sich die ganze Zeit befand, seit er ihn vermisst gemeldet hat?«

»Nein, vermutlich hatte er noch keine Gelegenheit, hier nachzusehen. Erst als dieser andere Psychologe auftauchte, um Chuck zu besuchen, kam Tom auf die Idee, den Jungen als vermisst zu melden.« Tolliver fröstelte. »Ich möchte so etwas nie wieder sehen.«

»Er hat sich selbst geopfert«, sagte ich. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. »Und beinahe - beinahe - wäre es umsonst gewesen.«

»Er hat nicht mehr klar denken können«, sagte Tolliver, was noch stark untertrieben war. »Und er war erst dreizehn.«

Die Rollbahren wurden an uns vorbeigeschoben, erst die von Manfred, dessen Gesicht leichenblass war. Seine Augen waren leer und weit aufgerissen.

»Manfred!«, rief ich, nur um ihm zu zeigen, dass jemand, der ihn kannte, in der Nähe war, jemand der wusste, was er getan hatte. Aber sein Gesicht bleib regungslos.

Als Nächstes kam Tom Almand heraus, seine Augen waren geschlossen und seine Lippen zu einem merkwürdigen Lächeln verzerrt. Er war mit seinem gesunden Arm an die Rollbahre gekettet, der Arm mit der Schusswunde trug einen Verband. Hoffentlich war er ordentlich getroffen worden. Ob Sheriff Rockwell wirklich auf seinen Arm gezielt hatte? Es war eine heikle Situation gewesen- andererseits, werden Polizisten nicht genau dafür ausgebildet?

Vielleicht war es besser so, dass sie ihn am Arm erwischt hatte. Vielleicht konnten die Angehörigen, der Überlebende irgendetwas aus seinem Prozess und seiner Verurteilung ziehen. Man würde ihm doch hoffentlich den Prozess machen und ihn verurteilen? Wir würden das in den überregionalen Nachrichten verfolgen können. Die Medien lieben Serienmörderprozesse, egal, ob der Mörder schwul oder hetero, schwarz oder weiß ist. Auf diesem Gebiet gibt es keine Diskriminierung.

Ich merkte, dass ich wirres Zeug dachte und auch, dass wir hier nichts mehr verloren hatten. Aber die beiden SBI-Agenten kamen den Weg hinter der Scheune entlanggerannt, als müssten sie ein Baby aus irgendwelchen Flammen retten. Sie hatten nicht vor, uns gehen zu lassen. Stuart und Klavin waren gut trainiert und daher nicht außer Atem, als sie sich direkt vor uns aufbauten. »Sie schon wieder«, sagte Agent Stuart. Er trug saubere Handschuhe, eine dicke Jacke von L. L. Bean und glänzende Stiefel, die bis zur Mitte der Wade reichten. Er sah aus wie ein kleiner Bergsteiger! Klavin war einen deutlichen Tick schlechter gekleidet, er trug eine schon reichlich mitgenommene, wasserabweisende Jacke, die schon mehrere Jahre alt war, sowie eine Strickmütze mit Ohrklappen.

»Er hat sich selbst umgebracht«, sagte ich, denn genau das würden sie wissen wollen.

»Wer?« Ich hatte schon Angst, dass mich Stuart schütteln würde, er konnte es kaum erwarten, alles zu erfahren.

»Chuck Almand. Er hat sich erschossen.«

Klavin fragte: »Wer war in dem Krankenwagen?«

»Tom Almand und Manfred Bernardo«, sagte Tolliver.

Sie sahen sich verwirrt an. »Der Vater des Jungen und der Enkel der Hellseherin«, sagte Tolliver.

»Sie ist gestern Nacht gestorben«, meinte Stuart.

»Ja, das ist richtig. Und ihr Enkel wäre heute beinahe ums Leben gekommen«, erwiderte ich.

»Das letzte Opfer lebt noch«, fügte ich hinzu, was sie so schnell zur Scheune laufen ließ, dass es staubte.

»Warum haben sie ihn noch nicht rausgebracht?« Tolliver lehnte sich vor und warf einen Blick hinein, gab es dann jedoch auf. Weder er noch ich wollten die Scheune noch mal betreten.

»Vielleicht können sie ihn nicht losmachen«, sagte ich. Tolliver nickte. Das klang vernünftig.

»Wer das wohl ist?«, sagte Tolliver nach langem Schweigen. Das Wetter war zwar etwas besser geworden, aber hier draußen war es immer noch kalt, vor allem wenn man nur rumstand und nichts zu tun hatte.

Ich drehte mich zu Tolliver um und umarmte ihn. Seine Arme umfingen mich, und so blieben wir stehen und klammerten uns an diesem sonnigen, eiskalten Tag aneinander. »Wir werden es herausfinden«, sagte ich, meine Lippen an seinem Hals. »Es wird in der Zeitung stehen oder in den Nachrichten kommen.« Der gefolterte Körper an der Wand, das viele Blut überall. Der arme tote Junge am Boden dieser furchtbaren Grube. O Gott, dafür hast du die Menschen nicht erschaffen.

Ich hatte schon lange nicht mehr in religiösen Zusammenhängen gedacht und wunderte mich, dass ich es jetzt tat. Und ich hatte auch noch nie rebelliert und gedacht, Warum, lieber Gott, warum? Das bringt nichts und ist sinnlos. Aber ich war auch noch nie mit solchen Gräueltaten konfrontiert worden, mit so vielen nebeneinanderliegenden Gräbern.

»Chuck hat dem Jungen das Leben gerettet«, sagte ich wie betäubt. »Er hat für eine Leiche gesorgt, die ich finden konnte.«

»Glaubst du wirklich, dass er diese Tiere zerstückelt hat?«

»Vielleicht hat ihn sein Vater dazu gezwungen, in der Hoffnung, dass Chuck in seine Fußstapfen tritt. Vielleicht dachte Tom, wenn Chuck sich wegen irgendetwas schuldig fühlte, würde er seinen Vater auch nicht anzeigen.«

»Xylda schien sich ziemlich sicher zu sein, dass Chuck es getan hat.«

»Ich finde die Vorstellung schrecklich, sie könnte sich bei ihrer letzten Hellseheraktion getäuscht haben.«

»Ich auch.« Tolliver klang grimmig. »Meinst du, ihr Abscheu hat Chuck dazu getrieben? Schließlich haben wir ihn alle angewidert angestarrt. Sogar sein Vater, obwohl er es besser wusste, und sein Sohn ebenfalls.«

»Chuck war ein Held. Er hat es geschafft, mit einem Vater zu leben, der Jungen einfach so zum Spaß tötete.«

»Aber er hat niemandem etwas davon erzählt.«

»Vielleicht wusste er es nicht, bis die Tiere ausgegraben wurden. Vielleicht hat er erst da begriffen, dass sein Vater die Jungen umbrachte. Oder Tom hat es ihm danach gesagt. So nach dem Motto, ›alle halten dich jetzt für böse und krank, aber jetzt werde ich dir mal was richtig Böses und Krankes zeigen. Gefällt es dir?‹.«

»Vielleicht wusste er es aber auch schon die ganze Zeit«, sagte Tolliver, was wahrscheinlicher war. »Vielleicht hat er geschwiegen, weil er seinen Vater liebte oder weil er Angst vor ihm hatte. Oder weil es ihm irgendwie gefiel, Tiere zu quälen, und er glaubte, Tom und er hätten etwas gemeinsam. Vielleicht half er ihm sogar mit den Jungen. Es muss gelegentlich praktisch gewesen sein, auf noch ein paar Hände zurückgreifen zu können. Einige der Jungen waren groß und schwer. Footballspieler, Teenager, bei denen der Wachstumsschub längst eingesetzt hatte. Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich nicht, wie das ein so kleiner Mann wie Tom Almand allein geschafft haben soll.«

»Aber Chuck hat dem Grauen ein Ende gesetzt.« Ich vergrub mein Gesicht in Tollivers Jacke. Er fuhr mir durchs Haar, wobei er darauf achtete, die rasierte Stelle an meiner linken Kopfseite nicht zu berühren. Er tätschelte mir die Schulter, was ich als sehr tröstlich empfand.

Endlich brachte man das letzte Opfer heraus. Es war in Decken gehüllt, hing bereits am Tropf und war an die Rollbahre geschnallt. Seine Augen waren geschlossen, und Tränen liefen ihm über das schmutzige Gesicht.

»Wie heißt du, mein Junge?«, fragte Sheriff Rockwell.

»Mel«, flüsterte der Junge. »Mel Chersney. Aus Queen's Table, in der Nähe von Clearstream.«

»Mel, wie lange warst du da unten?«, wollte Klavin wissen, der neben der Rollbahre herlief.

»Zwei Tage«, sagte er. »Zwei Tage, glaube ich.«

Und dann sagte er: »Ich kann nicht darüber reden.«

Ich konnte es ihm nicht verübeln.

Der Junge war gestern dort gewesen, als wir mit Chuck aneinandergeraten waren. Wenn Chuck uns in dem Moment einfach Bescheid gesagt hätte... Aber sein Vater war dazugekommen, und vielleicht konnte er es auch einfach nicht. Ich fragte mich, ob Mel Chesney schon in diesem Loch gesteckt hatte, als die Polizei die Tiere ausgegraben hatte. O Gott, was für eine furchtbare Vorstellung.

Bestimmt fragten sich alle Polizisten hier am Tatort genau dasselbe. Mel Chesney war dort stundenlang allein gewesen, später dann zusammen mit einer Leiche, in der Erwartung, zu Tode gefoltert zu werden. Es grenzte fast an ein Wunder, dass er nicht an Unterkühlung gestorben war.

Niemand versuchte uns aufzuhalten, als wir zum Wagen von Sheriff Rockwell gingen. Aber wir konnten nicht zur Hütte zurück und unsere Sachen holen, wenn uns niemand fuhr. Der Sheriff sagte: »Roh, bring sie aufs Revier.« Rob Tidmarsh hob den Zeigefinger, um uns zu bedeuten, dass er in einer Minute bei uns wäre.

Rockwell starrte uns an, als seien wir ein lästiges Detail, das sie loswerden müsse, bevor sie sich um wichtigere Dinge kümmern konnte. Und wahrscheinlich war das auch so. »Wir müssen den Tatort sichern, und das wird eine Weile dauern«, sagte sie. »Sie warten auf dem Revier, und wenn ich jemanden erübrigen kann, lasse ich Sie abholen lind zum See fahren.«

»Rob kann uns nicht da rausfahren?«

»Rob muss uns zusätzliches Filmmaterial holen, wenn er auf dem Revier ist. Die Gerichtsmediziner von der Bundespolizei werden so bald wie möglich hier sein, aber wir wollen eigene Bilder. Rob muss also sofort wieder zurück, im Moment ist dieser Fleck der wichtigste Ort in ganz Knott County. Sie müssen daher ein wenig Geduld haben.«

Die hatten wir bereits zur Genüge bewiesen.

Doch wir konnten es nicht ändern. Egal, wie sehr wir uns ärgerten - und ich ärgerte mich ziemlich -, Rob würde uns am Revier absetzen.

»Wird man den Jungen ins hiesige Krankenhaus bringen?«, fragte ich den Hilfssheriff.

»Nein, in das größere Krankenhaus nach Asheville«, sagte Rob. »Die SBI-Jungs haben darauf bestanden. Dabei haben wir gute Ärzte hier.« Er klang zutiefst beleidigt.

»Ich wurde hier gut behandelt«, sagte ich. Ich wollte mich gut mit Rob stellen, falls wir ihn später doch dazu überreden konnten, uns zur Hütte zu fahren. Aber es war auch die Wahrheit. Ich wollte gern glauben, dass ein so kleines Krankenhaus keine so teuren Apparate kaufen konnte wie größere Krankenhäuser, trotzdem befand ich mich auf dem Weg der Besserung. Auch die Schwestern waren sehr nett, wenn auch sehr beschäftigt gewesen.

Rob entspannte sich ein wenig.

Es ist immer komisch, in einem Polizeiauto durch den Ort zu fahren und durch ein Gitter vom Fahrer getrennt zu sein. Man fühlt sich irgendwie schuldig und schrecklich auffällig. Als wir hinter dem Revier hielten und ausstiegen, stürzten sich auch gleich die Journalisten auf uns und wollten wissen, ob man uns verhaftet hatte. Verdammt, dafür hatte ich jetzt wirklich keinen Nerv ! Ich konnte nicht verstehen, warum diese Schmeißfliegen nicht zur alten Scheune gezogen waren.

»Wir haben nichts über Funk durchgegeben und nur unsere Handys benutzt«, sagte Rob, als ich ihn darauf ansprach. Er machte inzwischen einen zugänglichen Eindruck und hielt mir sogar die Tür zum Revier auf, um den Journalisten zu zeigen, dass ich in seiner Gunst stand.

Auf dem Revier war die Hölle los. Dort hatte sich die Nachricht in Windeseile verbreitet, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich im ganzen Ort herumsprach.

Rob sah aus, als wisse er nicht recht, wohin mit uns, also ließ er uns in einem der Verhörräume Platz nehmen, sagte uns, wo die Snack- und Getränkeautomaten waren, und meinte, im Wartebereich gebe es Zeitschriften, falls wir welche wollten. Er war sichtlich in großer Eile, musste das Filmmaterial holen und zum letzten Tatort zurückkehren, also nickten wir, und er sauste los.

Es folgten mehrere Stunden Langeweile. Wir hätten längst aus Doraville raus sein können. Wir hätten im Bett sein und unsere neue Beziehung genießen können, eine Vorstellung, die vor allem bei Tolliver Anklang fand. (Bei mir hätte sie durchaus auch Anklang gefunden, wenn mir nicht lauter neue Stellen wehgetan hätten. Und auch mein Arm war für einen angebrochenen Arm viel zu sehr beansprucht worden.) Wir hätten auch mit einem anderen Job Geld verdienen können. Stattdessen hockten wir in diesem trostlosen Zimmer herum.

Um uns ein wenig die Beine zu vertreten, gingen wir in den Wartebereich am Eingang des Reviers. Wir beschlagnahmten alle Zeitschriften, zogen Junkfood aus den Automaten und versuchten, niemandem im Weg zu sein.

Nach vier Stunden kehrte Sheriff Rockwell zurück. Sie, Klavin und Stuart brachten noch mehr Stühle mit in den Raum, und wir gingen alles noch mal von vorn durch.

»Und Sie glauben wirklich, dass sich dieser Junge Chuck selbst umgebracht hat, damit Sie den anderen Jungen finden?«, fragte Stuart zum fünften Mal.

Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß auch nicht, was in seinem Kopf vorging.«

»Er hätte eine Nachricht hinterlassen, uns anrufen, Sie anrufen und sagen können: ›Mein Dad hält an einem geheimen Ort einen Jungen gefangene Dann wäre das Problem ebenfalls gelöst gewesen.

»Aber nicht für ihn«, sagte Tolliver.

»Er war ein Teenager«, sagte ich. »Ein Teenager, gequält von Angst, Schuld und Trauer. Wahrscheinlich wollte er für sich und seinen Vater Abbitte leisten.«

»Was glauben Sie, Ms Connelly? Hat er die Tiere freiwillig gequält?«

»Wenn ja, hat ihn die Lust daran entsetzt.« Vermutlich gab es keine einfache Erklärung für Chuck Almands Verhalten. Am Ende hatte er versucht, das Richtige zu tun, war aber nicht auf die Idee gekommen, dass er diesem Horror auch anders entkommen, gesund werden und sich hätte erholen können. Er hatte einfach nicht lange genug gelebt, um zu begreifen, dass er auch nach der Verhaftung seines Vaters eine Zukunft gehabt hätte, und er wollte, dass sein Vater mit dem Morden aufhört. Das war zumindest meine Interpretation von Chucks Verhalten.

Sie befragten uns lange, versuchten, uns nicht vorhandene Dinge aus der Nase zu ziehen. »Und sagen Sie bitte niemandem, was Sie in der Scheune gesehen haben«, schärfte uns Klavin ein. »Nicht, bevor der Fall vollständig aufgeklärt wurde.«

Das versprachen wir gern. Wir hatten keinerlei Bedürfnis, über das zu reden, was wir gesehen hatten.

Ich zweifelte stark daran, dass dieser Fall bereits vollständig aufgeklärt war, behielt das jedoch für mich. Trotz allem, was wir für sie getan hatten, würden sie meine Spekulationen doch nicht ernst nehmen. Aber an mir nagten Zweifel, und ich hatte das Gefühl, da sei etwas noch nicht abgeschlossen.

Jetzt mussten wir erst einmal Manfred und seine Mutter finden, die sich bestimmt schon fragte, was sie in ihrem vorherigen Leben verbrochen hatte, um derartig gestraft zu werden.

Ich erkundigte mich bei Sheriff Rockwell, wo Manfred war, und sie verblüffte mich mit der Antwort, dass man ihn ins hiesige Knott-County-Krankenhaus gebracht habe. Er habe darum gebeten, meinte sie.

»Das kann ich gut verstehen«, sagte ich zu Tolliver, als wir erneut in Robs Polizeiauto stiegen. Er war endlich dazu abkommandiert worden, uns zu unserer Hütte zurückzubringen. »Sonst würde er seiner Mutter das Leben noch schwerer machen. Und wenn er auch hier behandelt werden kann, muss er nicht extra nach Asheville transportiert werden.«

»Der Arzt meinte, er sei hier gut aufgehoben«, sagte Rob vom Fahrersitz aus.

»Dann ist ja alles in bester Ordnung«, erwiderte ich. Doch dann fiel mir ein, dass Manfred den Verdacht geäußert hatte, jemand habe seine Großmutter am Vorabend ermordet. Vielleicht war es doch nicht so gut, dass Manfred in diesem Krankenhaus lag. Mist, wieder eine Sorge mehr.

Als wir wieder in der Hütte waren, packten wir zusammen und brachten für alle Fälle alles in den Wagen. Wir löschten das Kaminfeuer und hängten für alle Fälle den Hüttenschlüssel an den Rückspiegel, damit wir nicht vergaßen, ihn Twyla zurückzugeben. Dann fuhren wir zurück nach Doraville. Wir hatten die Möglichkeit genutzt, uns frisch zu machen, denn dafür war am Morgen nicht sehr viel Zeit gewesen, und es ging uns schon deutlich besser. Mein Arm tat weh, weil ich aktiver gewesen war, als gut für mich war, und ich nahm ein Schmerzmittel. Ich schämte mich fast dafür, denn es gab Menschen, die wesentlich Schlimmeres aushalten mussten, aber ich konnte nun mal nur meinen eigenen Schmerz stillen.

»Kann ich nicht einfach weiterfahren?«, fragte Tolliver, als wir in Doraville an die große Kreuzung kamen. Geradeaus ging es aus der Stadt hinaus. Nach links ging es zum Krankenhaus.

»Das wäre schön«, sagte ich. »Aber ich fürchte, wir müssen uns davon überzeugen, dass es Manfred und seiner Mutter gut geht, findest du nicht?«

Tolliver blieb stur. »Ich wette, Manfred hat eine sehr toughe Mutter. Wie sollte es auch anders sein, bei einer Mutter wie Xylda. Ich wette, es geht ihnen gut.«

Ich blickte ihn von der Seite an.

»Na gut, einverstanden«, sagte er und bog nach links ab.

 

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